55 ECCENTRIC STRUCTURES IN EASTERN EUROPE

Eccentric Structures in Eastern Europe

Podiumsdiskussion, Dock Basel, 2013

Fabian Kiepenheuer, Lukas Wolfensberger

Link: Dock Basel

 

Die Schweizer Architekten Fabian Kiepenheuer und Lukas Wolfensberger stellen im Speaking Corner ihr Fotografie- und Architekturprojekt zum Thema «Eccentric Structures in Eastern Europe» vor. Im Rahmen einer mehrwöchigen Studienreise durch die Ukraine, Georgien und Armenien haben Kiepenheuer und Wolfensberger bis anhin nur teilweise oder gar nicht dokumentierte Bauwerke aus der späten Sowjet-Zeit von 1970 bis 1990 aufgesucht und fotografisch porträtiert. Die besuchten Bauwerke zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich in der architektonischen Qualität von den in riesiger Menge errichteten, uniformen Gebäuden aus der UdSSR-Zeit abheben. Trotz rigider Grundraster besitzen sie ein vielfältiges Formenvokabular und fallen durch ihre exzentrische Struktur auf.

Kiepenheuer und Wolfensberger erörtern in ihrer Studie ihre Faszination für die skurril anmutenden Trouvaillen, deren architektonische Qualität und stilistische Vielfalt sich deutlich von zeitgleichen Plattenbauten abheben. In den Fotografien werden die Eigenheiten dieser Bauwerke erlebbar, deren Formen und Strukturen die beiden Architekten analysierten und in ihrer Studie mit Formvergleichen aus Architektur und Anatomie sowie einer politisch-historischen Kontextualisierung ergänzten. Der Rundumschlag von der Ukraine bis nach Georgien und Armenien, vergegenwärtigt diese eigentümlichen Gebäude zwischen Zweck und Repräsentation, Formfreiheit und Regimetreue.
Anschliessend Publikumsgespräch.

 
„Architektur steht gezwungenermassen immer in Beziehung mit ihrer Struktur. Es gibt jedoch architektonische Konzepte, bei welchen die Struktur mehr ist als lediglich Tragstruktur. Zahlreiche Gebäude und Anlagen bestärken den Eindruck, dass in Osteuropa überdurchschnittlich viele Bauten erstellt wurden, bei welchen die Struktur eine wesentliche Rolle einnimmt. Im Besonderen fallen die zahlreichen Betonkonstruktionen auf, deren Pfeiler, Träger und Platten einheitlich normiert wurden, um dann tausendfach kopiert zu werden. Die für uns spannend erscheinenden Objekte zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich in der architektonischen Qualität von denen in riesiger Menge errichteten Gebäuden aus der UdSSR-Zeit abheben. Trotz rigider Grundraster besitzen diese ein vielfältiges Formenvokabular und fallen durch ihre exzentrische Struktur auf. Es sind gewissermassen Ausnahmen. In welchem Zusammenhang diese Bauten zum restlichen Europa zu verstehen sind, ist nicht vollständig klar. Die UdSSR hatte zu dieser Zeit nur begrenzt Kontakt zur westlichen Welt und die Architekten verfügten nur über bedingtes Wissen darüber, was sich ausserhalb der Sowjetunion abspielte. Es scheint jedoch offensichtlich, dass – wie übrigens auch im Fall von Kuba – mehr bekannt war, als die Regierung damals wahrhaben wollte.

Das Interesse am beschriebenen Thema erklärt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund aktueller architektonischer Phänomene: Die Idee, ein Gebäude als Gesamtheit zu denken und zu verstehen, schwindet heute zunehmend. Die Struktur wird immer mehr von der Fassade und den Innenausbauten separiert, wodurch der Architekt zunehmend von der Gesamtplanung eines Gebäudes entbunden wird.

Im folgenden Vortrag werden wir versuchen die exzentrischen Strukturen genauer zu fassen und ihre Eigenschaften herauszuschälen. Zudem besteht die Absicht darin, herauszufinden, inwiefern diese Bauten in Osteuropa, welche nur teilweise oder gar nicht dokumentiert sind, das Gedankengut zeitgleicher Architektur anderer Länder teilen oder davon abweichen.

SKIZZE EINER REISE

Unsere Reise, welche wir ziemlich genau vor einem Jahr machten, führt durch die Ukraine über Georgien nach Armenien. Russland, oder genauer gesagt Moskau, wurde auf der Reise bewusst ausgelassen, da besonders die regionalen Einwirkungen auf die streng zentral definierte Architektur interessierten. Zudem ergab die Vorbereitung des Themas und der Reise, dass zahlreiche lohnenswerte Projekte sich am Rande der Sowjetunion befinden. Es schien fast, als konnten die Architekten mit zunehmender Distanz von Moskau freier ihre Projekte entwickeln, was zu sehr eigenständigen und kohärenten Projekten führte.

Auch der Wohnungsbau wurde ausgeklammert, der allein schon von der Masse her ein nicht zu bewältigendes Thema schien.  Die Anzahl der öffentlichen Bauten aus dem Bereich der Bildung, des Sports, der Kultur und der Politik erschien genug Stoff als Thema. Durch die politische Situation der Sowjetunion ist klar, dass der Staat, respektive die öffentliche Hand, der wichtigste Auftraggeber architektonischer Repräsentationsbauten war und nicht die Investoren. Das Thema der Zeit war „Die grosse Form für die grosse Zahl“, doch eine Stilbezeichnung konnte für diese Zeit vor Antritt der Reise noch nicht ausgemacht werden.

VERSUCH EINER DEFINITION

Exzentrik ist als Begriff zu verstehen, der einerseits sinngemässe Bedeutungen wie übersteigert und skurril beinhaltet, andererseits aber auch auf die geometrische und formale Eigenschaft der Bauten hinweist. Exzentrik definiert in seiner Bedeutung Punkte, welche ausserhalb eines Kreiszentrums liegen. Bezieht man diese Definition auf das Skelett eines Hauses, so könnte man damit das Ausscheren der Struktur von innen nach aussen beschreiben.

DAS SPIEL MIT DER REGEL

Auf den ersten Blick glaubt man, dass die Ordnungsprinzipien von Bauten aus den späten Siebzigerjahren der UdSSR auf einfachen Rastern und Repetitionen beruhen, so wie man es aus dem Massenwohnungsbau kennt. Auch wenn strenge Ordnungsmuster und repetitive Rhythmen oftmals das Erscheinungsbild prägen, entdeckt man bei längerem Hinschauen Ausnahmen, die der Regelhaftigkeit nicht gehorchen. Man kann dieses Phänomen auch als Spiel mit der Regel bezeichnen, als ob der Autor Freude bekommen hätte, damit zu spielen.

Beim Sanatorium in Jalta beispielsweise glaubt man am Anfang, dass die Balkone immer genau gleich sind. Doch bei näherer Betrachtung sieht man, dass die Ausrichtichtung der Balkone gegen den Hang hin gespiegelt werden und somit eine Ausnahme in das rigide System eingeführt wird.

GEHORSAMKEIT DER NUTZUNG

Je absoluter die Struktur eines Gebäudes entworfen und ausformuliert ist, umso stärker erhärtet sich der Verdacht, dass sich die Raumnutzung der Struktur unterwerfen oder sogar anpassen muss. Die Struktur ist gewissermassen das dominante Element, nach welchem sich der funktionale Inhalt des Raumes richten muss. Dimension und Form des Raumes richten sich nach dem übergeordneten System der Gesamtstruktur und nicht primär nach dem Raumprogramm. Interessant ist aber, dass oftenbar auch diese strengen Strukturen sich unterschiedlich bespielen lassen und unterschiedliche Räume aufnehmen können. Beim Sanatorium in Jalta beispielsweise werden die Räume im Innern des Gebäudes, trotz ihrer sehr spezifischen Form, durch unterschiedlichen Nutzungen wie Bibliothek, Nachtclub oder Fitnessraum genutzt. Oftmals ergeben sich gerade an jenen Stellen interessante Räume, wo spezifische Besonderheiten des Raumprogramms auf die vorgegebene Struktur reagieren müssen.

«CORE WITHOUT SHELL»

Die Gebäudestruktur ist beinahe bei allen Bauwerken aus der späten Sowjet-Zeit in unterschiedlichem Masse auch das raumgenerierende Element. Zwischen dem Rohbau und der fertigen Oberfläche spannen sich nicht noch Sekundärelemente. Dies entspricht aber eigentlich überhaupt nicht dem «Core and Shell» Verständnis, welches heute durch den Wunsch nach Flexibilität und schneller Veränderbarkeit oft als die wirtschaftlich beste Lösung angesehen wird. Dass aber auch spezifisch entworfenen Strukturkonzepte funktioniere können zeigt beispielsweise das Hyatt Hotel von Meili Peter, dass ein Scheibenplatten-System aufweist und dadurch einen Wechsel von unterschiedlichen Spannweiten pro Geschoss zulässt.

EINHEIT VON STRUKTUR UND ORNAMENT

Dass die Struktur selber zum Ornament wird, ist ein Phänomen, dem man in der Sowjet-Architektur der späten Siebzigerjahre auch oft begegnet. Die Struktur besitzt in diesen Fällen also nicht nur statische und raumdefinierende  Eigenschaften, sondern zeigt zudem auch noch ornamentale Züge. Vergleicht man diese Bauten mit der Architektur des Westens jener Zeit, so fallen diese ornamentalen Züge besonders auf. Weiter lässt sich festhalten, dass die Beschäftigung mit dem Ornament je nach Region unterschiedliche Ausformulierungen mit sich führte. In Armenien beispielsweise weisen Ornamente klare Bezüge zum arabischen und persischen Raum auf.

Der Versuch, Struktur und Ornament als eine architektonische Einheit zu denken und zu entwerfen, ist eine Gestaltungsart, die viele Parallelen zu zeitgenössischen Gestaltungstendenzen aufweist. Viele Entwürfe von Herzog & de Meuron weisen offensichtliche Bezüge zu dieser Verschmelzung von Struktur und Ornament auf. Das Olympia-Stadion in Peking kann an dieser Stelle diese Relation wohl am klarsten verdeutlichen.

FORMEN DER EXZENTRIK

Betrachtet man die besuchten Bauten als Gesamtheit, so fällt auf, dass von Architekten für unterschiedliche Bauaufgaben immer wieder ähnliche architektonische Themen verwendet wurden. Das Verwenden von Typologien ist in der sowjetischen Architektur ein allgemein bekanntes Phänomen: Während der Standardisierung wurden besonders im Wohnungsbau zahlreiche Typen entworfen und hundertfach kopiert. Dabei überrascht aber, dass diese Typen nicht zwingend an das Programm gebunden sind, sondern sich vielmehr auf ähnliche Situationen zu beziehen scheinen.

Bezeichnet man die beschriebenen Bauten als Knochenhäuser, gewissermassen als Körper, deren Skelett in unterschiedlicher Intensität, in roher und unmittelbarer Form in Erscheinung tritt, so wird eine typische Eigenschaft der Exzentrik offenbart: Die Abbildung der Struktur an der Fassade. Knochenhäuser können dabei in unterschiedlicher Form ihr inneres Skelett nach aussen zur Schau stellen, je nachdem wie stark die Struktur einen Bezug mit der äusseren Umwelt eingeht. Es lassen sich dabei folgende Typen unterscheiden, auf welche im folgenden näher eingegangen wird: Monumentale Schwergewichte, Ausscherende Gebeine, Stadtkronen, Kimonohäuser, Topografische Aufständerungen, Stadtzelte, schmucke Kisten und  skurrile Raumkulissen.

Diese Typen sind nicht nur projektspezifisch von Bedeutung, sondern haben immer auch eine städtebauliche Relevanz. Aus diesem Grund beschreiben sie nicht nur sich selber, sondern auch ihren Bezug zur Stadt oder zur Landschaft.

MONUMENTALE SCHWERGEWICHTE

Die besuchten Gebäude besitzen häufig eine monumentale Ausstrahlung mit Fernkraft, die die Aufmerksamkeit auf sie selber lenkt. Vor diesem Hintergrund kann man ihnen eine gewisse Autonomie zuschreiben, weil sie als Solitärbauten die städtebauliche Umgebung teilweise auch ignorieren. Als Nadel oder einfacher Kubus wirken sie durch ihre Symmetrie und ihre Mächtigkeit monumental. Breite Treppenaufgänge vor einem solchen Bauwerk verstärken zudem durch die Froschperspektive diese Mächtigkeit des Bauvolumens.

In Kiew befindet sich am Knickpunkt einer innerstädtischen Autobahn ein elegantes Hochhaus, das wie eine Nadel den Ort markiert. Das fensterlose Bauvolumen ist im Grundriss nur ungefähr zwanzig auf zwanzig Meter und dient als Bücherdeposit für die Bibliothek im Erdgeschoss. Fährt man mit dem Auto auf dem Highway, sieht man diese Bibliothek schon von fern.

AUSSCHERENDE GEBEINE

Oftmals ist das äussere Erscheinungsbild der besuchten Bauten von organischer Gestalt und suggeriert Bilder von Tieren. Walfische, Kröten, Schlangenköpfe oder Schmetterlinge sind Assoziationen, die einem intuitiv einfallen. Das Archäologische Museum in Tiflis sitzt beispielsweise wie eine dicke Kröte auf einer leichten Anhöhe der Stadt.

Denkt man über diese Bilder nach und versucht diese Assoziationen zu präzisieren, so fällt auf, dass sich die Bauten durch ein spezifisches Merkmal auszeichnen, welches in zeitgleicher Architektur im Ausland selten anzutreffen ist. Man könnte dieses Merkmal als eine Art Verknöcherung der Haut bezeichnen, ähnlich wie ein Rückenpanzer eines Krokodils. Doch entgegen anatomischen Regeln, durchdringen die Knochen gewissermassen die Epidermis, beziehungsweise die Fassade.

Betrachtet man das archetypische Haus, dessen grundsätzliche Funktion es ist, den Innen- und Aussenraum von einander zu trennen, so besitzt die Fassade eine ähnliche Eigenschaft wie die Haut. Sie wird von der Struktur oder dem Skelett gehalten und bildet ein hüllendes Kontinuum, welches nahtlos das Skelett umfasst. Diese Haut hat dabei eine schützende Funktion, indem es die tragende Struktur vor der nagenden Erosion, Wind und Kälte schützt.

Sowohl in der Anatomie als auch in der Architektur hat die Epidermis, bzw. die Fassade eine schützende und isolierende Funktion. Physikalisch stellt dieses Ausscheren des Skeletts folglich ein wärmetechnisches Problem dar. Dies ist ein Grund, warum dieses Phänomen in der Architektur selten und in der Anatomie gar nie in Erscheinung tritt. Da die Bauten in der UdSSR oft strengen kontinentalen Temperaturschwankungen ausgesetzt sind, erscheint es umso überraschender, dieses Phänomen so zahlreich vorzufinden.

STADTKRONEN

Die Stadtkrone ist auch der Titel von Bruno Tauts erstem Buch. Es entstand in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Taut konzipiert in dem Buch eine Gartenstadt mit einem Kulturzentrum als architektonischen Mittelpunkt, dessen Besonderheit ein über allem aufragender, gläserner Turmbau ist. Diese Mitte mit ihrem Kristallturm nannte Taut „Stadtkrone“. Der zweckfreie Kristallbau sollte „nur schön“ sein und in einem alle Künste vereinigenden Innenraum das Sonnenlicht farbenprächtig verwandeln und den „Kosmos“ auf diese Weise gegenwärtig werden lassen.

Analog dieser Vorstellung scheinen gewisse Bauten in Osteuropa ebenfalls entstanden zu sein. Die Dominanz für die nähere, aber auch entfernte Umgebung wird mittels volumetrischer Setzung, monumentaler Gestaltung und unter Verwendung symbolischer Elemente wie der Krone selbst durchexerziert.

Im Extremfall wurden die kronenartigen Elemente der Gebäude noch mit Gold versehen, wie beispielsweise beim “Musical Comedy Theatre” von Odessa oder beim Lenin Museum in Kiew, damit auch wirklich jedem die Aussage klar wurde.

Trotz dieser kritisch zu hinterfragenden Machtdemonstration scheinen die Gebäude durch Eleganz und Präsenz ihren Platz im Stadtraum ohne grosse Kritik behalten zu dürfen. Die gefundenen Stadtkronen scheinen jedenfalls in ihrer Nutzung als Bahnhof, Opernhaus oder Kongresszentrum unterschiedlicher nicht sein zu können.

SCHMUCKE KISTEN

Manche der besuchten Bauwerke fallen weniger durch eine expressive Volumetrie oder knöcherne Strukturen auf, sondern durch ihre filigrane Gliederung der Fassade. Die Gebäudeform zeichnet sich dabei meist durch die Einfachheit einer kistenförmigen Volumetrie aus, wobei unscheinbare Sekundärelemente die Erscheinungsform der Bauwerke prägen. Im Folgenden werden diese Fassaden an zwei Fallbeispielen erläutert:

Das Opernhaus in Dnipropetrowsk besitzt als Solitärbau eine zweigeschossige Glasfassade, die sich durch feine Aluminiumprofile auszeichnet. Die Proportionen der Fenstereinteilung sind bei beiden Bauwerken mit grosser Sorgfalt entworfen und geben dem Haus einen feinen Rhythmus. Die Glasfassade des Opernhauses zieht sich um die Gebäudeecke, wo das bronzefarbene Profil eine Ecke nach dem Vorbild von Mies van der Rohe ausbildet.

Auch das Bürohaus in Jerewan fällt nicht durch eine sichtbare und expressive Gebäudestruktur auf, sondern durch die grossen, runden Fensteröffnungen, die sich über zwei Geschosse hinweg ziehen. Die Öffnungen sind in einer vorgesetzten Steinfassade eingelassen. Hinter den Öffnungen vor der Primärfassade ist eine vertikal ausgerichtete, metallene Brise-Soleil installiert.

TOPOGRAFISCHE AUFSTÄNDERUNGEN

Der Baukörper des ehemaligen Verkehrsministeriums von Tiflis besteht aus fünf horizontalen, zweigeschossigen Gebäuderiegeln. Sie wirken, als wären sie übereinander gestapelt worden. Sie kragen weit über die darunterliegenden Riegel aus. Das Gebäude lastet auf drei Gebäudekernen, die die horizontalen Riegel vom Grund abheben. Sie enthalten die vertikale Erschliessung. Der höchste Kern hat 18 Geschosse. Das Tragwerk besteht aus Stahl und Stahlbeton und gründet auf massivem Fels.

Auch zeitgenössische Beispiele greifen die Idee der Stapelung eines Bauwerkes wieder auf. Ein jüngstes Beispiel ist das Vitra Haus von Herzog & de Meuron in Weil am Rhein.

Das Sanatorium Druschba in Jalta thront wie ein gewaltiges Zahnrad auf drei mächtigen Stützen über der steilen Küstenlandschaft der Krim. Als städtebaulich autonomes Gebilde fügt es sich selbstverständlich in die Landschaft, auch wenn die Anlage mit grosser Erhabenheit der unwegsamen und steilen Topografie trotzt.

Das Schriftstellerhaus, welches 1969 als Erholungsheim für die Schriftstellervereinigung erbaut wurde und in welchem sich Paul Sartre angeblich für einen Sommer aufgehalten hat, reckt sich wie ein Schlangenkopf zum dunkelblauen See hin. Das Haus, welches nur aus einem grossen Salon, einer kleinen Küche und einem Schlafzimmer besteht, stützt sich auf einer einzigen Säule. Als der See vor 40 Jahren einen höheren Wasserspiegel hatte, fusste diese Säule noch im Wasser. Der weite Blick von der Terrasse vor dem Salon auf den Sewansee und die umliegende karge Berglandschaft, welche sich über 2000 Meter über Meer befindet, ist atemberaubend. Hier steht nicht die Architektur selber in Bezug zur Landschaft, sondern dem Bewohner wird ein Panorama offenbart, welches zu inspirieren und beruhigen vermag.

STADTZELTE

Zahlreiche Bauten der besuchten Länder weisen festliche Charakterzüge auf. Dies stellt ein Phänomen dar, das im Gegensatz zu zahlreichen anderen Formen der Exzentrik nicht lokal gebunden zu sein scheint. Primär stechen die Gebäudenamen ins Auge, welche das Wort Palast selbst in sich tragen. Es wird klar, dass während dem Sozialismus Institutionen für das Volk oder spezifische Bevölkerungsgruppen geschaffen worden sind.

Paradoxerweise bestehen jedoch die meisten Zeltbauten aus einer Betonstruktur und nicht aus einer Leichtbauweise, wie man es von ephemeren Strukturen kennt, welchen die Zelt- oder Festarchitektur grundsätzlich angehört. Es werden folglich assoziative Bilder des Festes und des Zeltes, welche nicht selten auch bewegte Motive beinhalten, sozusagen in Beton gegossen. Doch trotz der so genannten Erstarrung schaffen es die Gebäude, den Anschein zu erwecken, in Bewegung zu sein. Eine illusionistische Überwältigung, die von weiteren Aspekten der Festarchitektur, wie zum Beispiel dem Einsatz von Lichtshows, ebenfalls bekannt ist.

SURREALE KULISSEN

Sei es eine Bibliothek, ein Hotel, ein Kino oder eine Metrostation, es fällt auf, dass manche Innenräume sehr surreale Züge haben. Man bewegt sich in Räumen, die eine sehr unwirkliche Stimmung erzeugen. Im Schwimmbad des Sanatoriums in Jalta beispielsweise werden die Dimensionen des Tragwerkes so überhöht, dass man die Grösse des Schwimmbads durch den Massstabssprung gar nicht wirklich fassen kann. Beim Kino “Russija” in Armenien lösen Elemente wie die fliegenden Untertassen, welche als Deckensegel die Raumakustik verbessern, oder die schalenförmige Volumetrie des Institutes für Wissenschaftlich-Technische Forschung und Entwicklung Assoziationen zu Szenen aus Science-Fiction-Filmen wie “Raumschiff Enterprise” aus. Der Kinobesucher oder die wissenschaftlichen Mitarbeiter fühlen sich schon beim Betreten des Hauses wie in eine andere Welt oder in eine Kulisse versetzt. 

Die Lichtführung und der Einsatz von Kunstlicht spielen in sehr vielen Bauwerken eine wichtige Rolle für den surrealen Effekt, sei es in einem Schwimmbad, in einem Opernhaus oder in einer Bibliothek. Bei der Metrostation Yeritasardakan in Jerewan beispielweise hat man schon bei der Erschliessungshalle das Gefühl sich mit der Bahn durch die Röhre zu bewegen. Mittels ringartiger Lichtführung wird die gleiche Wahrnehmung vorgetäuscht, wie wenn ein Zug durch einen Tunnel fährt. Die statische Szenerie scheint sich sozusagen zu bewegen.

KIMONOHÄUSER

Manche Sowjet-Bauten tragen ein Kleid, welches das Skelett nahezu verdeckt. Das Kleid ist in diesen Fällen der dahinter liegenden Struktur als autonomes Element vorgehängt, wobei die Fassadenteilung oftmals nicht mit den Achsmassen des Skelettes  korrespondiert. Im Gegensatz zum rohen Skelett ist die Fassade feingliedrig ausgestaltet und übernimmt in manchen Fällen die Funktion einer Brise-Soleil. Die Fassade erscheint als ein übergeworfenes Kleid, als eine Art kaftenartiger Umhang oder wie man es aus Japan kennt, als ein Kimono. Die Materialisierung ist oft aus Beton. Die Fassade der Rundfunkstation in Jerewan beispielsweise besteht aus einem betonierten Umhang, welcher aus Hortenkacheln generiert wird. Hier wurden immer die gleichen Elemente verwendet, jedoch jeweils um 90 Grad zur benachbarten Kachel verdreht. Es entsteht mit einfachen Mitteln eine unregelmässige, wohl proportionierte Fassadenoberfläche. Andere Umhänge sind filigrander, wie zum Beispiel aus Aluminiumblech. Die Fassade bekommt dadurch eine homogene Wirkung und erscheint wie ein übergeworfenes Strickkleid mit grosser Maschenweite. Das Spielzeugwarenhaus in der östlichen Peripherie von Kiew zeigt diese Fassadengestaltung exemplarisch.

EPOCHALER CHARAKTER

Verwendet man den Begriff Exzentrik als übergeordneten Titel der beschriebenen Gebäudetypologien und Phänomene, so steht dieser für sonderbare und skurrile Bauten während einer Zeit der strengen Rationalisierung und Standardisierung des Bauwesens. Exzentrik muss also nicht nur als eine architektonische Gestik verstanden und interpretiert, sondern auch im Bezug zum Ort und zur Zeit verstanden werden. Der Begriff bekommt dadurch einen epochalen Charakter und könnte eine ambitionierte Ära der sowjetischen Architekturgeschichte beschreiben. Es ist ein Versuch, die architektonischen Strömungen nach der russischen Avantgarde zu fassen. Es war eine Zeit, in der offenbar zahlreiche Architekten einen grossen Gestaltungsdrang verspürten und zudem grosses Talent mitbrachten. Es scheint, als wurden die Zügel bei der Erschaffung vieler Bauwerke etwas loser gehalten, und die Architekten die Möglichkeit hatten ihre Kreativität so richtig entfalten zu können.

«SOZIALISMUS LIGHT»

Zu Beginn der Siebzigerjahre kommt es durch Paradigmenwechsel innerhalb der Sowjetunion aber auch unter den Republiken selbst zu einem gewissen ökonomischen Wettbewerb. Dieses durchaus verständliche Bestreben war aber natürlich schwer zu vereinen mit der Idee der gleichen Güterverteilung. Dieser Widerspruch zeigte sich auch in der Architektur der Sowjetrepubliken während der Siebziger- und Achtzigerjahre, als sich die Führungen der Republiken die unglaublichsten Tricks einfallen liessen, um von Moskau die Erlaubnis und die Mittel zum Bau neuer und bedeutender Objekte zu erhalten. Moskau konnte beispielsweise umgangen werden, indem Projekte in kleine  Teilbereiche  zerlegt wurden und somit nicht von Moskau genehmigt werden mussten oder die Projekte anders betitelt wurden. Eine der eindruckvollsten Geschichten ist die, wie in den Siebzigerjahren die örtlichen Verantwortlichen gemeinsam mit der Bevölkerung in Jerewan Verkehrsstaus an jenen Tagen organisierten, an denen eine moskauer Expertenkommission in der Stadt darüber entscheiden sollte, ob die Jerewaner U-Bahn gebaut werden durfte.

Die Arbeit der Architekten selbst gestaltete sich ebenfalls etwas anders zu dieser Zeit. In Armenien beispielsweise erfolgte 1955 ein Regierungsbeschluss, wonach alle kleineren Architekturfirmen und Privatbüros in Planungsinstitute zusammengeschlossen wurden. Diese umfassten oft weit über mehrere hundert Angestellte und waren in Designstudios, Wirtschaftsabteilung usw. unterteilt. Die einzelnen Designstudios konkurrierten aber untereinander, weshalb Repräsentationsbauten auch weiterhin Autoren hatten. Dass die Planungsinstitute nicht nur negativ zu beurteilen sind, zeigt der Umstand, dass sie auch als offene Plattform für regelmässige Fachgespräche und Treffen mit internationalen Kollegen gebraucht wurden. Zudem war das Planungsinstitut bei Entscheidungsprozessen gleichberechtigt mit dem Städtebaurat.

Die Architekten, die zu dieser Zeit grosse öffentliche Gebäude bauten, erhielten oftmals freie Hand für architektonische und städtebauliche Experimente. Viele talentierte Architekten verstanden es, innerhalb der sehr rigiden und rationalisierten Baumethoden Gestaltungstechniken zu entwickeln. Es war nicht der Versuch gegen die Umstände der Zeit zu arbeiten, sondern mit ihnen. Es scheint, als schafften die Architekten, die Formensprache der Moderne mit der unifizierenden sowjetischen Architektur zu vereinen. In diesem Punkt scheint die sowjetische Architekturgeschichte im Vergleich zur westlichen Zeitschreibung sogar avantgardistische Züge zu haben.

Die Bauwerke in Osteuropa überzeugen durch ihre Eigenart. Sie scheinen aus einer Grundidee heraus entwickelt zu sein und setzen sich nicht als Collage aus unterschiedlichen Elementen zusammen.

AMBIVALENZ EINES ARCHITEKTONISCHEN ERBES

Beim Umgang der Bevölkerung mit diesem architektonischen Erbe gibt es grob drei Umgangsformen festzustellen. 1. Das Gebäude sich selbst überlassen, 2. das Gebäude sanft zu sanieren und 3. das Gebäude sehr stark zu sanieren oder gar abzureissen. Zu erwähnen ist, dass die sanfte Sanierung so gut wie nie zum Zuge kommt, meisstens wird das Gebäude in seiner ursprünglichen Form einfach so lange benutzt wie nur möglich. Ein Beispiel, bei welchem der Umgang nicht auf den ersten Blick sichtbar wird, ist das Hotel Radison Blue. Beim Hotel Radisson Blue, dessen blaues Emblem hoch oben über Tiflis sichtbar ist, bleibt vorerst unklar, ob es sich um ein neu gebautes Hochhaus handelt. Erst beim näheren Betrachten stellt man fest, dass das Hotel genau die gleiche Volumetrie wie das ursprüngliche Hotel Iveria besitzt. Von alten Bildern hat  man noch die elegante und schwerelose Volumetrie des früheren Hotels Iveria in Erinnerung, welches Ende der Neunzigerjahren in ein eritreisches Flüchtlingslager umgenutzt werden musste. Der kubische Baukörper war ursprünglich in ein Sockelgeschoss, eine Hauptfassade mit umlaufenden Balkonen und eine Attika vertikal zoniert. Die neue, vorgehängte Kupfer-Glas-Fassade hingegen besitzt keine Tiefe mehr und wirkt flach. Es erhärtet sich der Verdacht, dass lediglich die Gebäudestruktur übernommen wurde. Interessant ist aber, dass der Gebäuderaster von fünf auf sieben Metern aus betonierten Stützen sich offensichtlich auch für die Raumaufteilung eines modernen Hotels der besten Klasse eignet.

Bei der Bevölkerung selbst ist grundsätzlich ein ambivalentes Verhältnis zu Staatsbauten festzustellen. In Charkiw beispielsweise bezeichnen viele Leute das Opernhaus als Monster und bringen damit ungute Gefühle zu ihrer Vergangenheit zum Ausdruck. Die teilweise heuchlerische Taktik der Regierung, so genannte „Paläste für das Volk“ zu bauen, konnte die Menschen nicht über die tiefer greifenden Probleme hinweg trösten.

Obwohl viele der Projekte von fachlicher Seite sowohl in der Sowjetunion als auch international eine Wertschätzung erfahren, werden die Gebäude oft als unzweckmässig verurteilt. Die Frage der praktischen und sozialen, sowie stadtraumgenerierenden Funktion werden nicht gestellt und der Vorwurf konzentrierte sich darauf, wie authentisch diese Architektur sei.

Die derzeit vorherrschende Ideologie verurteilt das System der Sowjetunion oftmals pauschal, ohne seinen Leistungen gebührend Beachtung zu schenken. Diese Einstellung wird beispielsweise in Georgien auch durch die so genannte Freiheitscharta von 2011, welche darauf abzielt, jegliche Spuren der Sowjetherrschaft in Georgien zu beseitigen, auch heute noch gestärkt.

Die Fachleute, wie auch die Gesellschaft, hat sehr wenig Mitspracherecht, was mit den Gebäuden passiert. Das Bild des schlechten Sowjetregimes wird immer noch versucht aufrecht zu erhalten, wodurch leider auch die fortschrittlichen Leistungen genau dieses Regimes in Vergessenheit geraten.“

In intellektuellen Kreisen ist es anders. Viele Künstler interessieren sich sehr stark für die Identität ihrer persönlichen Herkunft und setzen sich in ihren Arbeiten mit dieser Vergangenheit auseinander.

%d Bloggern gefällt das: